Tägliches Schreiben in der Trauer kann sehr heilsam sein. Egal, ob du viel oder wenig schreibst: Mit dem täglichen Schreiben schaffst du dir ein Ritual, welches dir Halt in dieser schwierigen Zeit geben kann.
Durch den Verlust eines lieben Menschen ist von heute auf morgen alles anders. Er fehlt. All die kleinen Dinge, die er immer getan hat, die dich vielleicht sogar genervt haben, sind jetzt weg. Du stolperst immer wieder über seine Abwesenheit. Sei es beim Frühstück, das ihr immer gemeinsam eingenommen habt, wo du jetzt allein am Tisch sitzt. Seien es die fehlenden Kleiderhaufen auf dem Fußboden, über die du immer gestolpert bist und die jetzt nicht mehr da sind.
Da kann es hilfreich sein, diese Dinge aufzuschreiben. Jeden Tag. Sie abzugeben an ein Blatt Papier. Oder sie festzuhalten, damit diese Erinnerungen nicht verloren gehen. Deine Gefühle festzuhalten. Oder das, was du jetzt selbst tust, was vorher seine Aufgabe war.
Tägliches Schreiben macht Sinn
Vielleicht hast du in deiner Kindheit oder Jugend Tagebuch geführt. Dann kannst du dich gewiss erinnern, wie erleichternd es für dich war, dich jemandem anzuvertrauen. Jemandem, der dich versteht. Der nichts in Frage stellt. Der einfach da ist. Mit deinem Tagebuch hattest du keinen Streit. Es war immer auf deiner Seite. Ihm konntest du vertrauen, dass es deine Geheimnisse in sich einschließt. Alle Sehnsüchte, allen Frust, all die Dinge, die dich beschäftigten, fanden darin ihren Platz.
Wenn wir älter werden, hören wir oft mit dem Tagebuchschreiben auf. Wir finden es kindisch, unsere Sorgen und Nöte einem Buch anzuvertrauen. Dabei ist tägliches Schreiben auch für Erwachsene eine gute Sache. Du bekommst die Möglichkeit, deine Gedanken zu ordnen. Alles, was dir durch den Kopf geht, kannst du niederlegen. Unzensiert. Spontan. Ungefiltert. Aus dem Schreiben kannst du neue Erkenntnisse gewinnen und Klarheit erreichen. Es kann dir Trost und Hoffnung geben. Du kannst dir buchstäblich alles „von der Seele schreiben“. Du lässt den Ballast im Buch und gibst ihn ab.
Ich selbst finde das tägliche Schreiben für mich ungeheuer entlastend. Es ist raus, ich muss es nicht mehr mit mir herumschleppen. Das heißt nicht, dass durch das Aufschreiben aller Frust verschwindet. Manche Dinge tauchen Tag für Tag auf oder immer mal wieder. Das gibt mir die Möglichkeit, sie nochmals aufzugreifen und vielleicht anders zu betrachten. Oftmals komme ich dadurch zu neuen Lösungen für frustrierende Dinge. Oder ich finde zumindest heraus, wie es nicht funktioniert.
Gerade im Trauerprozess bietet das tägliche Schreiben einen Halt, wenn alles um dich herum aus den Fugen geraten zu sein scheint. Ich möchte dir deshalb vier verschiedene Möglichkeiten des täglichen Schreibens in der Trauer vorstellen. Auch wenn ich mich im Nachfolgenden auf das Schreiben nach dem Tod eines lieben Menschen beziehe, gilt das Gesagte für alle Situationen, in denen wir Trauer empfinden. Ich lade dich ein, die verschiedenen Möglichkeiten des tägliches Schreibens einfach auszuprobieren und das für dich im Moment Passende zu finden.
1. Tagebuch
Ein Tagebuch zu führen ist die naheliegendste Möglichkeit. Wenn du in deiner Trauer den Eindruck gewinnst, dass niemand dir mehr zuhört, dass alle genug von deinen Tränen haben oder du einfach nicht immer jemanden nerven möchtest, dann ist dein Tagebuch ein verlässlicher Zuhörer. Es verurteilt dich nicht. Es hat genügend Platz für alle deine Tränen.
Im Tagebuch führst du ein Zwiegespräch mit dir selbst. Denn wenn du schreibst, hörst du deine innere Stimme. Du bist nicht mehr allein.
Ob du dein Tagebuch - so wie vielleicht in deiner Kindheit - anredest oder einfach aufschreibst, was dir gerade in den Sinn kommt, bleibt dir überlassen. Probiere aus, was für dich besser passt.
In dein Tagebuch kannst du alles hineinschreiben, was dich bewegt oder dir an diesem Tag begegnet ist. Es muss nicht vollständig sein. Ob du Prosa schreibst, Gedichte, Stichpunkte oder einfach nur ein Wort, wie es dir heute geht, entscheidest du selbst. Manchmal magst du vielleicht lieber etwas zeichnen oder ein Foto einkleben. Es gibt keine Regeln, außer die, die du dir selbst gibst.
Ich empfehle dir auch, jeden Tag zu schreiben. So kommst du in die Regelmäßigkeit. Manchmal wird es dir schwer fallen. Dann wiegt die Trauer so viel, dass du das Gefühl hast, den Stift nicht halten zu können, geschweige denn, einen klaren Gedanken aufs Papier zu bringen. An anderen Tagen sprudelt es nur so aus dir heraus, dass du gar nicht schnell genug schreiben kannst.
Nimm dir am besten täglich eine bestimmte Zeit, in der du deine Gedanken und Gefühle aufschreiben möchtest. Diese Zeit ist reserviert. Wenn du nach zwei Minuten fertig bist, weil das einzige Wort, was dir einfällt, mit Sch... beginnt, ist das genauso in Ordnung, wie wenn du fünf Seiten vollschreibst.
Ob du ein Notizbuch, ein Schreibheft oder einen Kalender nutzt, um deine Gedanken festzuhalten, bleibt dir überlassen. Nutze, was dir am geeignetsten erscheint. Oder was du vielleicht noch da hast. So kannst du gleich beginnen.
2. Täglicher Morgenbrief an den Verstorbenen
Eine zweite Möglichkeit ist das Schreiben eines täglichen Morgenbriefs. Früher waren Briefe der Weg der Kommunikation zwischen Menschen, die voneinander räumlich getrennt waren. Im Zeitalter von Mails und Sprachnachrichten haben sie stark an Bedeutung verloren. Kaum noch jemand schreibt heute Briefe, weil es schnellere Kommunikationsmöglichkeiten gibt.
Mit Toten funktioniert das leider nicht. Wir können ihnen nicht mal schnell eine Nachricht schicken und kurze Zeit später ist die Antwort da. Um uns weiterhin mit ihnen verbunden zu fühlen, hilft uns der tägliche Morgenbrief. Der Morgen eignet sich deshalb gut dafür, weil viele Trauernde Schlafprobleme haben und oft sehr früh wach sind. Diese Zeit kannst du nutzen, statt dich weiter schlaflos im Bett zu wälzen.
Beim Morgenbrief liegt der Fokus auf deinem derzeitigen Leben ohne den Verstorbenen. Wie geht es dir? Was steht an diesem Tag an? Was fühlst du? Was vermisst du? Hier führst du ein Gespräch mit dem Verstorbenen. Zunächst ist es ein sehr einseitiges Gespräch. Du erzählst und bekommst keine Antwort. Wenn du aber in dich hineinlauschst, wirst du vielleicht eine Antwort hören. Du hast die Stimme des Verstorbenen ja noch in dir. Welchen Rat würde er dir jetzt geben?
Der Morgenbrief ist in der Regel ein ausformulierten Brief. Natürlich kannst du dem Brief Zeichnungen, Gedichte oder Bilder beifügen. So, wie du es gerade für richtig hältst.
3. Positiver Tagesrückblick
Es gibt Zeiten in der Trauer, da überwältigt sie uns schier. Wir sehen alles nur noch schwarz. Nichts scheint mehr einen Sinn zu ergeben. Alles ist nur noch furchtbar. Dann kann es hilfreich sein, jeden Abend einen positiven Tagesrückblick zu schreiben.
Festgehalten werden nur die Dinge, die an diesem Tag schön waren.
Jetzt fragst du dich vielleicht, wozu es gut sein soll, das Negative, was dein Leben bestimmt, wegzulassen. Das ist ganz einfach. In unserem Gehirn werden die Gedankenbahnen, die am intensivsten genutzt werden, verstärkt. Je mehr wir uns auf negative Gedanken fokussieren, desto stärker werden sie. Die positiven Erlebnisse bekommen keinen Raum mehr in unserem Denken. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, kann ein positiver Tagesrückblick helfen. Unser Fokus verändert sich dadurch.
Was gehört jetzt zum positiven Tagesrückblick? Da sind zum einen schöne Begegnungen. Jemand, der dich angelächelt, dir seine Zeit geschenkt oder dich in den Arm genommen hat. Genauso finden angenehme Momente ihren Eingang. Die Sonne, die dich gewärmt hat. Ein Problem, was du bewältigt hast. Das strahlende Grün der Bäume. Ein Bad. Auch positive Gefühle kannst du benennen. Worüber hast du dich gefreut? Wo hast du dich wohlgefühlt?
Dir fällt nichts ein, was schön war? Dann überlege, wofür du an diesem Tag dankbar bist. Es gibt so viele Selbstverständlichkeiten, dass wir darüber vergessen, für sie dankbar zu sein. Zum Beispiel dafür, ein Dach über dem Kopf zu haben, eine warme Wohnung, genug zu essen. Diese Dinge sind trotz deines schweren Verlustes immer noch da. Vielleicht ist jetzt die Zeit, sie zu würdigen.
Manch einem reicht es, sich diese positiven Erlebnisse abends vor dem Schlafengehen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Doch gerade in einer tiefen Trauer ist das oft zu wenig. Ich selbst habe bei mir gemerkt, dass ich das Schöne aufschreiben muss, sonst übernimmt die Grübelspirale wieder das Zepter. Das Positive wird dann überlagert der Trauer. Also schreibe ich.
Auch beim positiven Tagesrückblick bist du frei in der Wahl, worin du schreibst und wie du schreibst. Probiere auch hier die verschiedenen Möglichkeiten aus und finde, was jetzt zu dir und deine Gefühlen passt.
4. Trauertagebuch
Beim Trauertagebuch liegt der Fokus, wie schon der Name sagt, auf deiner Trauer. Du schreibst darin über alles, was dich in deiner Trauer beschäftigt. Es ist der Ort für deine Trauer. Für all deine Gefühle, auch Wut oder Verzweiflung, Leerstellen, deine Verbindungen zum Verstorbenen. Alles Schöne und Schlechte, was dich in deiner Trauer bewegt, kann hier seinen Platz finden.
Wenn du dich für ein Trauertagebuch entscheidest, achte besonders gut darauf, wie es dir beim Schreiben geht. Beim Fokus auf dem Verlust kann es sonst dazu kommen, dass es dir noch schlechter geht als zuvor.
Du kannst das Trauertagebuch wie ein normales Tagebuch formfrei gestalten. Alternativ gibt es vorgefertigte Trauertagebücher, die du verwenden kannst. Letztere enthalten einzelne Seiten für jeden Tag, in denen du jeweils alles zu bestimmten Punkte schreiben kannst, wie zum Beispiel „Mein Herz sagt“, „Die Farbe des Tages“, „Wichtig für mich“ oder „Ich fühle mich“.
Für mich persönlich ist ein vorgefertigtes Trauertagebuch nichts. Ich fühle mich dadurch zu sehr eingeengt. Aber vielleicht ist gerade dieser feste Rahmen und diese Struktur für dich hilfreich, wenn deine ganze Welt aus den Fugen geraten ist. Auch hier gilt wieder: Es gibt kein Falsch, sondern nur das, was du jetzt brauchst. Und das ist immer richtig.
Wenn du ein Trauertagebuch kaufen willst, schaue vorher genau in den Inhalt. Einige der Bücher, die als Trauertagebuch beworben werden, sind eigentlich Erinnerungsbücher. In diese kannst du zwar auch täglich schreiben, aber sie haben einen anderen Zweck. Hierauf werde ich in einem der nächsten Blogbeiträge eingehen.
Tägliches Schreiben kann dir in deiner Trauer helfen, deine Gedanken und Gefühle zu ordnen und neue Wege im Weiterleben zu beschreiten. Die Trauer wird deswegen nicht verschwinden, aber sie kann erträglicher werden. Schaue, welche der Möglichkeiten für dich jetzt gerade passt. Entscheide dies gegebenenfalls immer wieder neu.
Achte beim täglichen Schreiben ganz besonders auf deine Gefühle. Wenn es dir beim Schreiben gleichbleibend schlecht oder gar schlechter geht als zuvor, du nicht mehr weiter weißt, dann beende es. Suche dir Hilfe. Das kann ein Freund, ein Bekannter oder ein Therapeut sein. Du musst diese schwere Zeit nicht allein durchstehen.
Ich selbst schreibe seit zwei Jahren Tagebuch. Es hat mich durch die guten und die schlimmen Tage in dieser Zeit begleitet. Es hat all meine Trauer um die Verluste, meinen Frust, meine Verzweiflung aufgenommen. An einigen Tagen habe ich mich bewusst auf die schönen Erlebnisse konzentriert. Denn ich merkte, dass ich über all dem Schweren das Leichte aus den Augen verlor. Die Dankbarkeit für die Dinge, die ich als selbstverständlich hinnahm, die aber gar nicht so selbstverständlich sind: ein sicheres Zuhause, Menschen, die mich lieben, Wärme.
Ich habe beim Schreiben immer wieder probiert, was mir jetzt gerade gut tut. Muss ich die Wut abgeben oder brauche ich im Moment etwas, das mich trägt? Jeder Tag ist anders und genauso sieht jeder Tag in meinem Tagebuch anders aus. Mit langer Prosa oder kurzen Stichpunkten. Mit Gedichten oder symbolhaften Zeichnungen. Was gerade in mir war und heraus wollte. Manchmal habe ich auch Fragen, die mir gerade begegnet sind, genommen. Ich habe Antworten für mich gefunden, die mich weiter getragen haben. Zumindest bis zum nächsten Tag. Einen Schritt nach dem anderen. Das tägliche Schreiben gab und gibt mir Kraft für jeden neuen Tag.
Welche Erfahrungen hast du mit dem täglichen Schreiben gemacht? Hat es dir geholfen? Was fandest du schwierig?
Achte auf dich.
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