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  • AutorenbildAntje Przyborowski

Die Angst unter der Wut

Nachdem ich in einem meiner letzten Beiträge die Wut im Trauerprozess aufgegriffen habe, möchte ich dich heute einladen, einen Blick unter das zu werfen, was die Wut häufig zudeckt, nämlich die Angst. Gerade wenn wir einen lieben Menschen verlieren, kann ganz viel davon hochkommen. Angst vor der Zukunft. Angst davor, alles jetzt allein bewältigen zu müssen, eine Stütze verloren zu haben. Weil jetzt nichts mehr so ist, wie es war.


Diese Reaktion ist völlig normal. Gerade der Tod eines geliebten Menschen kann dir den Boden unter den Füßen wegziehen. Alles, was bisher als sicher galt, ist jetzt in Frage gestellt. Worauf kannst du vertrauen, wenn sich von jetzt auf gleich alles ändern kann? Wo findest du jetzt noch Sicherheit? Diese Angst kann schier überwältigend sein. Da ist es einfacher, sie in Wut zu verwandeln. Denn Wut macht handlungsfähig.


Dabei handelt es sich nicht um eine bewusste Entscheidung von dir. Niemand überlegt, dass er statt Angst lieber Wut haben möchte. Es ist ein Überlebensmechanismus, weil Wut uns die Ohnmacht nehmen und Kraft verleihen kann. Kraft, die du jetzt gut gebrauchen kannst, um weiterzuleben. Sie kann dich wieder stark machen.


Unabhängig davon kann es jedoch hilfreich sein, sich der darunter liegenden Angst bewusst zuzuwenden. Diese bewusste Zuwendung gibt dir die Möglichkeit, dir deine Angst in kleinen „Häppchen“ anzuschauen, wenn du dich stark genug dafür fühlst. Denn auch sie ist ein Teil von dir.




Angst hat eine Warnfunktion


Angst ist in erster Linie eine Emotion, die wir nicht mögen. Wenn wir Angst verspüren, fühlen wir uns oft klein und hilflos. Sie erinnert uns an Momente der Schwäche, die meist in unserer Kindheit verankert sind. Damals konnten wir uns oft nicht allein helfen. Wir benötigten Unterstützung von Erwachsenen, um Probleme und schwierige Situationen bewältigen zu können.


Gerade nach einem schweren Verlust können dich viele Ängste bedrängen. Soeben warst du noch zuversichtlich, dass du dein Leben im Griff hast. Plötzlich hat sich jedoch alles geändert: Dein Partner ist vielleicht nicht mehr da. Du musst jetzt alles allein regeln, was du bisher auch abgeben konntest. Dein Verlust zeigt dir, dass du bestimmte Dinge deines Lebens nicht unter Kontrolle hast. Und diese Erkenntnis erzeugt Angst.


Angst hat zunächst in erster Linie eine Warnfunktion. Evolutionsgeschichtlich soll sie uns vor Lebensgefahr warnen: vor einem Säbelzahntiger, einem Absturz aus großer Höhe oder vor einem Waldbrand. Heute überfällt uns Angst meist in Situationen, die wir nicht kennen und einschätzen können. Eine neue Aufgabe, die wir noch nicht überblicken können oder bei der uns die Erfahrung fehlt, genauso eine neue Stadt, unbekannte Menschen oder Prüfungen.


Auch Situationen, in denen uns bereits früher etwas Schmerzhaftes widerfuhr, können uns Angst machen. Zum Beispiel wird ein Kind, was einmal versehentlich auf die heiße Herdplatte gegriffen hat, das aus Angst vor dem Schmerz nicht noch einmal versuchen. Diese Angst muss jedoch nicht nur auf diese konkrete Situation beschränkt bleiben. Meist lernen wir aus solchen Erfahrungen, dass wir alles, was sehr heiß ist, besser meiden sollten.



Angst kann ein Krafträuber sein


Jetzt bringt dich ein Trauerfall in der Regel nicht direkt in Lebensgefahr, aber er entzieht dir die Kontrolle über die Situation. Alles ist neu, alles hat sich verändert, und dass nicht unbedingt zum Besseren. Du weißt nicht, was auf dich zukommt und wie du dein Leben jetzt bewältigen sollst. Durch deinen Verlust werden die oben beschriebenen Verhaltensmuster der Angst aktiviert.


Dabei handelt es sich nicht um eine bewusste Entscheidung. Vielmehr reagierst du automatisch auf diese Situationen, oft abhängig von deinem bisherigen Erleben. Wenn du die Erfahrung gemacht hast, dass Kampf oder Flucht in ähnlichen Situationen geholfen haben, wird dein Körper wahrscheinlich wieder genauso reagieren. Hast du stattdessen gelernt, dass Kampf oder Flucht in dieser Situation nicht funktionieren, wird die Angst eher zum Krafträuber und nimmt dir jeglichen Antrieb.


Wenn ein geliebter Mensch stirbt, bist du in einer Situation, die sich völlig deiner Kontrolle entzieht. Du kannst kämpfen und flüchten, soviel du willst, und wirst doch nichts daran ändern können, dass der andere tot ist. Diese Erkenntnis kann dazu führen, dass dir die Kraft für die Bewältigung deines täglichen (Weiter-)Lebens fehlt. Denn nichts scheint mehr einen Sinn und Zweck zu haben, egal, was du tust.


Dieser Kraftverlust kann zu einer Depression führen. Deshalb ist es gerade in diesen Fällen wichtig, dir Unterstützung von außen zu holen. Der Beistand durch andere Menschen kann dir durch diese schwere Zeit helfen. Manchmal reicht es, dass jemand da ist, der zuhört. Vielleicht hilft es dir auch, wenn du eine Zeit lang Unterstützung im Haushalt bekommst. Oder dass sich jemand um deine Kinder oder unterstützungsbedürftigen Eltern kümmert.



Die Angst ansehen


Wut ist eine Möglichkeit, diese Angst vor Kontrollverlust und Machtlosigkeit zu beseitigen. Sie bringt dich aus der Ohnmacht in die Handlungsfähigkeit zurück. Du kannst wieder schreien, fluchen, schlagen, rennen. Du bist nicht länger Opfer unkontrollierbarer Ereignisse, sondern wirst wieder zum Bestimmer über dein Leben.


Doch dadurch verschwindet die darunterliegende Angst oftmals nicht. Sie wird nur verdeckt, um dann in unerwarteten Momenten wieder hervorzuschießen. Sie äußert sich dann nicht nur in neuen Wutausbrüchen, sondern vielleicht auch in Frust, Groll, Vorwürfen, bösen Kommentaren. Menschen werden weggestoßen, weil die Trauer und der Schmerz einfach unerträglich sind. So kann es zu einer Spirale aus Angst und Wut kommen, die dein Leiden an deinem Verlust weiter erhöht.


Ich möchte dich deshalb einladen, dir deine unter der Wut liegende Angst anzuschauen. Nicht gleich als Ganzes, sondern in kleinen „Häppchen“. Was macht dich jetzt gerade wütend? Wo fühlst du diese Wut? Was könnte die Angst darunter sein? Wo spürst du diese Angst? Vielleicht hat sie ja eine Gestalt, eine Farbe. Betrachte sie als das, was sie ist: ein Teil von dir. Nicht mehr und nicht weniger. Geh mit Neugier daran, als wenn du eine interessante Blume entdeckst.


Durch diese Übung kannst du dich ein Stück weit von der jetzt gezeigten Angst distanzieren. Du bist nicht deine Angst, sie ist lediglich ein Teil von dir. Bereits diese Erkenntnis kann Erleichterung bringen. Vielleicht möchte diese Angst dir auch etwas sagen. Du kannst sie fragen, indem du zum Beispiel einen schriftlichen Dialog mit ihr führst. Auch das macht sie für dich greif- und kontrollierbarer. Damit du zusätzlich zu deiner Trauer nicht noch mehr leiden musst.


Achte auf dich.

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